Dienstag, 18. Februar 2014

REVIEW: HAARMANN - DIE GESCHICHTE EINES WERWOLFS (Theodor Lessing, Kirchschlager Verlag)





Friedrich „Fritz“ Haarmann ist wohl der bekannteste, deutsche Triebtäter der jüngeren Vergangenheit. Seine „Karriere“ als Menschenmetzger, Massenmörder und Deviant bescherte ihm sogar den hinlänglich bekannten „Warte, warte noch ein Weilchen…“ Kehrreim und ließ ihn für viele Menschen nicht nur zum Paradebeispiel für einen wahnhaften Mörder, sondern auch zum fleischgewordenen Sinnbild für das deutsche Nachkriegstrauma in den 1920er Jahren werden. Weiterhin konnte man Götz George im 1995 veröffentlichten Kammerspiel „Der Totmacher“ in der Rolle des Fritz Haarmann bewundern. Haarmann ist – so fragwürdig dies auch klingen mag – Kulturgut, wenn auch nicht eines, auf das man unbedingt stolz sein muss.



Wie sehr man dazu neigt, solche auf wahren Begebenheiten beruhende Schauermärchen auf einige Kernpunkte zu reduzieren und ein vorschnelles, halbwahres Bild im eigenen Geiste zu konstruieren, macht einem das Buch „Haarmann -  Die Geschichte eines Werwolfs“ des Schriftstellers und Philosophen Theodor Lessing (1872 – 1933) gewiss. Lessing, zeitlebens ein „Querkopf“ und Dissident, der auch einem politischen Mord zum Opfer fiel, liefert mit diesem 1925 erstveröffentlichten Buch nicht nur eine tiefe und gründliche Charakterstudie Haarmanns, sondern auch einen Augenzeugenbericht über die geführten Prozesse und eine herbe Kritik über den Geist der Zeit ab. Umso erfreulicher ist es, dass dieses Werk vom Kirchschlager Verlag neu aufgelegt und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde.


Der Kern des Werkes gliedert sich in zwei Teile: „Ort und Zeit des Dramas“ und „Der Prozess“. Hiervon beschreibt der erste Teil eindringlich die Person Haarmann und seinen Lebenslauf. Angefangen bei seiner von Streitigkeiten und Dysfunktionalität geprägten Familienverhältnissen, über die ersten Strafdelikte bis hin zu den Verbrechen und den Leichenfunden wird alles chronologisch aufgearbeitet und ausführlich beschrieben. Nachdem Täter und Taten vorgestellt und analysiert wurden, folgt die Aufwicklung des Prozesses, der Haarmann gemacht wurde. Hierbei geht Lessing ebenso akribisch (wenn nicht sogar akribischer) vor, wie er es im ersten Teil getan hat und stellt neben den einzelnen Geschworenen, den Aussagen der Zeugen und Beschuldigten und dem Verhalten der Presse auch jedes einzelne Opfer vor, für dessen Tod Haarmann und Grans verantwortlich gemacht wurden.



Im Gegensatz zu minderwertigeren „True Crime“ Autoren und den damaligen Presseorganen, bietet Lessing keine pornographisierte Aneinanderreihung von Tatbeschreibungen, sondern liefert mit „Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs“ zuallererst eine Charakterstudie ab. Hierbei sind – wie es bei Serienmördern häufig der Fall ist – vor allem die Familienverhältnisse Haarmanns von Interesse. Haarmann litt stark unter seinem tyrannischen Vater und verehrte seine Mutter. Gerade die extrem detaillierte Schilderung von Haarmanns privaten Verhältnissen, lässt den „Werwolf“ um einiges menschlicher und stellenweise fast schon bemitleidenswert erscheinen. Lessing beschreibt die ersten Konflikte mit dem Gesetz, seine ersten homosexuellen Kontakte und seine stellenweise fast schon obskure berufliche Laufbahn und ist stets bemüht, Haarmanns Wesen zu schildern und neben seiner Lebenschronik auch soetwas wie eine Charakteranalyse zu erstellen. Haarmanns Gefühlslagen werden bis ins intimste beschrieben und gewertet, sodass man stellenweise in ihm mehr ein psychisches Wrack, als einen geifernden Perversling sieht. Vor allem die höchst seltsame Beziehung zum jungen Hans Grans spielt im Buch eine übergeordnete Rolle und gerade in ihr zeigt sich sehr gut, dass Haarmann keineswegs ein eindimensionaler Gewalttäter, sondern in seinem tiefsten Innern eine alleingelassene, gekränkte Seele war. Weiterhin wird  Haarmanns kindliche, naive und derbe Art sehr treffend beschrieben, was – im Zusammenhang mit seinen Verbrechen – ein geradezu schauriges Gesamtbild ergibt.

Natürlich kommen auch die Morde in „Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs“ keineswegs zu kurz. Vor allem die Tatsache, dass jedes Opfer bzw. jeder Kriminalfall im einzelnen geschildert wird, macht dieses Werk unverzichtbar für jeden, der sich mit der Mordserie beschäftigen möchte. Haarmanns diabolisches Treiben wird in aller Ausführlichkeit beschrieben und sein grausiger Habitus wird haarklein erörtert. Hierbei ist vor allem das „Drumherum“ bemerkenswert, ebenso wie die Tatsache, dass er jahrelang unentdeckt bleiben konnte. Die Details, die Lessing offenbart, lassen keinen Zweifel darüber, warum Haarmanns Bekanntheitsgrad sich über die Jahre hat halten können. Die Kochtöpfe voller Menschenfleisch, die „Menschenklappe“ in seiner Wohnung und die Entführungen am Bahnhof sind nur einige Beispiele für den Facettenreichtum dieses historischen Kriminalfalls. Einer der Höhepunkte des Buches ist der Abschnitt, in dem Lessing das Konzept des sexuellen Vampirismus erörtert und auf den Mörder anwendet. Es steht nicht zur Debatte, dass Lessing – trotz aller Objektivität – auch in diesem Bereich ein relevanteres Werk abgeliefert hat, als es viele moderne Autoren tun.  In „Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs“ verbinden sich die Persönlichkeit, die Umstände und die Taten des Mörders zu einem gelungenen Porträt, in dem keiner der Kernaspekte zu kurz kommt und das Thema in seiner vollen Gänze von allen Seiten beleuchtet wird. 



Abgesehen von der ausführlichen Schilderung der Tathergänge und beteiligten Charaktere sind auch die sozialkritischen Seiten des Buches von gesteigertem Interesse. Lessing legt großen Wert auf die sozialen und wirtschaftlichen Umstände, die die Weimarer Republik prägten und spricht offen solche (seinerzeit wohl prekären) Themen wie Prostitution, Armut und Verwahrlosung an. Lessing ist keineswegs unbefangen und schreibt extrem objektiv, aber gerade das macht das Buch fast schon zu einem zeithistorischen Dokument, das auch Aussagen über Themen trifft, die eher indirekt mit dem Fall Haarmann in Verbindung stehen. Es wird verstärkt auf Haarmanns Spitzelfunktion bei der Polizei und das Versagen der Behörden eingegangen, Lessings Ausschluss von der Verhandlung geschildert und über Kollektivschuld philosophiert, ohne dass es dem zugleich sachlichen und erzählerischen Ton des Buches schaden würde. Auch sprachlich ist Lessing sehr bewandert, was vor allem im Zusammenspiel mit der Tatsache, dass er seine von Anfang an unverhohlen seine Meinung präsentiert, ein nicht zu unterschätzender Pluspunkt ist. Auch die Tatsache, dass er die Vorgehensweise der Justiz (gerade im Fall Grans) sehr scharf kritisiert, muss lobend erwähnt werden. „Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs“ war seiner Zeit weit voraus und ist auch heute noch in allen Punkten ein voller Erfolg.

Weiterhin bietet das Buch einige sehr interessante Fotografien der Tatorte, den „Charakteren“ etc. und das Geständnis von Haarmann persönlich. Schon alleine letzteres macht das Buch unverzichtbar.

Fazit: Grandios geschrieben, informativ und tiefgründig. „Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs“ ist eine nahezu perfekte Analyse der Person Fritz Haarmann und bietet weiterhin eine allumfassende Beschreibung jedes einzelnen Mordfalles. Der obektive, kritische Ton wertet das Buch zusätzlich auf und verleiht dem Geschriebenen eine frische Note, die sich perfekt mit dem informativen Inhalt verträgt. Theodor Lessings „Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs“ ist uneingeschränkt empfehlenswert und innerhalb dieser Sparte  sicherlich als Referenzwerk anzusehen.

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