Dienstag, 8. Oktober 2013

REVIEW: UND ERLÖSE UNS NICHT VON DEM BÖSEN (Joel Séria, 1971)





Anne und Lore sind zwei junge Mädchen aus gutem Hause, welche gemeinsam die selbe Klosterschule besuchen.  Auf den ersten Blick wirken sie wie wohlerzogene, junge Damen, doch der Schein trügt: Anne und Lore haben sich dem Bösen verschrieben und verbringen ihre Sommerferien damit, die Menschen in ihrer näheren Umgebung zu terrorisieren. Je länger sie dies tun, desto boshafter werden ihre Streiche, bis eines Tages etwas geschieht, was ihr Leben für immer verändern wird...




Joel Sérias Film „Mais ne nous délivrez pas du mal“ aus dem Jahre 1971 ist eine ein interessantes Relikt und ein wahres Kind seiner Zeit. Sorgenfrei zwischen sozialkritischem Drama und beinharter Exploitation hin- und hertänzelnd, ist der französische Film so radikal, wie er unverwechselbar ist. Unschuldig und böse zugleich, besticht „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“ durch seinen Willen zur Grausamkeit, seine starken Charaktere, seine Freizügigkeit und einen tiefschwarzen Humor, von dem man oftmals nicht genau weiß, ob man ihn überhaupt als solchen wahrnehmen kann. Unter seiner Genreoberfläche ist „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“ auch eine zynische, hasserfüllte Abrechnung mit den Tugenden und gesellschaftlichen Normen seiner Zeit, aus dem so viel authentischer Hass und Abneigung spricht, wie man sie heute wohl nur noch schwerlich filmisch verpacken könnte.






Der Film stellt Anne und Lore in ihrer Klosterschule vor und zeigt sie uns beim Lesen obszöner Schriften unter der Bettdecke. Nachdem Anne eine Nonne und eine Novizin beim Liebesspiel bespitzelt, verrät sie sie in einer geheuchelten Beichte beim Pfarrer des Klosters. Wenig später fangen die Sommerferien an und die beiden Mädchen kehren zurück in ihre biederen Anwesen, wobei vor allem Annes Familie sich als sehr wohlhabend entpuppt. Als ihre Eltern in Urlaub fahren, verbringt sie jeden Tag damit, mit Lore durch die umliegenden Wälder zu fahren und den Einwohnern bösartige Streiche zu spielen. So verdreht die junge Lore einem Bauern den Kopf, spreizt lasziv ihre Beine vor ihm und sagt, sie wolle mit ihm schlafen, nur um ihm ihr Knie in den Schritt zu rammen, als er ihr nachläuft und den Akt vollziehen will. Während er verkrümmt auf dem Boden liegt, lässt Anne seine Kühe frei. Später zünden sie sein Heu an, töten die Haustiere des geistig zurückgebliebenen Gärtners und feiern auf dem Zenitstand ihrer Verdorbenheit eine schwarze Messe, in der sie den Lehren des Christentums ein für alle Mal abschwören und Satan als ihren neuen Meister erwählen und ihr Leben dem Bösen widmen. Als sie eines Nachts einen Mann, der mit seinem Wagen liegengeblieben ist, mit in ihr gemeinsames Zimmer, welches sie sich in Annes Anwesen eingerichtet haben, mitnehmen, gehen ihre erotischen Provokationen nach hinten los…





„Und erlöse uns nicht von den Bösen“ wird getragen von seinen beiden Hauptfiguren Anne und Lore, wobei Anne etwas mehr im Rampenlicht steht und auch definitiv der „Überzeugungstäter“ ist. Wie schon beschrieben, schafft Seria es seine beiden Heldinnen als absolut verdorben und hinterhältig zu inszenieren. Gerade ihre Jugendlichkeit bzw. ihre vermeintliche „Unschuld“ steht in absolutem Kontrast zu der Art, in der sie sich verhalten. Gerade Anne wird als absolut gehässig und böse dargestellt, quält Tiere und ist durch und durch hinterlistig. Der Regisseur begeht nicht den Fehler und lässt seine Heroinen sympathisch-böse erscheinen, sondern inszeniert sie als echte kleine Biester, die erwachsene Männer mit ihren Reizen terrorisieren und sogar tätlich angreifen. Obwohl man mit einigen ihrer Taten einfach nicht sympathisieren kann, steht die Intelligenz der beiden Mädchen (Lore kann quasi als Erweiterung Annes gesehen werden) in derbem Kontrast zu den Opfern ihrer Streiche, welche allesamt zur Unterschicht gehören und in der Regel geistig etwas beschränkt sind. So muss zum Beispiel der offensichtlich behinderte Leon unter den beiden Mädchen sehr leiden, selbiges gilt für den Bauern. Ob Anne und Lore als Sinnbilder für den Adel zu verstehen sind, der auf den Pöbel eindrischt, bleibt dem Zuschauer überlassen. Sinnig wäre es jedoch, nicht zuletzt weil „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“ seine beiden jungen Damen zu nutzen scheint, um systematisch alle Fundamente der französischen Gesellschaft zu entwerten.





„Und erlöse uns nicht von dem Bösen“ ist eine Aneinanderreihung von Streichen, Boshaftigkeiten und Gotteslästerungen und funktioniert als solche sehr gut, auch wegen des brillanten Scores (höre ich da etwas Rosemary’s Baby heraus?). Neben den Gemeinheiten ist jedoch auch die Erotik ein tragender Aspekt des Films. Die beiden Mädchen sind nicht nur verderbt und giftig, sondern auch sehr hübsch anzusehen. So verwundert es nicht, dass in so ziemlich jedem ihrer Streiche das Bezirzen eines Mannes eine sehr große Rolle spielt. Die Boshaftigkeit ist immer sexuell aufgeladen und anrüchig. Gespreizte Beine, Kokettieren in Unterwäsche und intime Fragen sind die Waffen der beiden jungen Damen und ja, alle Männer springen auf ihre Anzüglichkeiten an. Die beiden Charaktere sind zwar offen aggressiv und böse, befinden sich jedoch in einer Welt, in der alle männlichen Charaktere ihren Charme unwiderstehlich finden und die minderjährigen Mädchen begehren (die Darstellerinnen selbst waren jedoch volljährig). Ein gutes Beispiel ist der notgeile Pfarrer, der in der Beichtszene fast schon an Francos „Liebesbriefe einer portugiesischen Nonne“ erinnert. Dieses eher kritisch zu bewertende Gesellschaftsbild lässt auch die Streiche in einem etwas anderen Licht erscheinen und verleiht dem Geschehen eine weitere Dimension. Jedoch sind die „Grausamen Taten“ (so der Titel des Buches, in dem sie ihre Aktionen verewigen) der beiden Mädchen doch immer so fies, dass es zu einem Gedankengang ala „Wer ist jetzt böse, die Bösen oder die Gesellschaft?“ nicht ausreicht. Dies tut jedoch der superben, sexuellen Note keinen Abbruch.





Doch Sexualität und Gewalt bleiben nicht nur oberflächliche Effekthaschereien, in Serias Werk geht es um solche grundlegenden Dinge wie Moral, Philosophie und Religion. Anne und Lore sind stark beeinflusst von den beiden Schriftstellern Charles Baudelaire und Comte de Lautreamont, welche auch mehrfach Erwähnung finden. So lesen die zwei Mädchen gemeinsam aus dem grandiosen „Die Gesänge des Maldoror“ (wer es nicht kennt, SOFORT nachholen, aber vorher schämen) und bringen im fulminanten Ende des Filmes die wundervollste Referenz an „Les fleurs du mal“, welche man je zu Gesicht bekommen hat. Das Porträt Baudelaires schmückt übrigens auch das Zimmer der beiden Mädchen. Insofern kann man der Art, in der das Böse dargestellt wird, einen fundierten, aber nicht aufdringlichen philosophischen Unterbau, welcher Kenner der Materie mehr als entzücken dürfte, attestieren. Eine etwas größere und offensichtlichere Rolle spielt jedoch die Religion. Der notgeile Pfarrer und die lesbischen Nonnen können als heftige Kritik gegen die Kirche verstanden werden. Seria schafft es auf diese Art und durch die beiden Protagonistinnen das Christentum als absolut lachhaft und heuchlerisch darzustellen. Die Satansmesse, die Anne und Lore abhalten, ist einer der unangefochtenen Höhepunkte von „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“ und so dicht inszeniert, dass sie den Zuschauer absolut mitreißt. Doch auch abgesehen von dieser beeindruckenden Szene sind religiöse Motive bzw die Umkehr religiöser Dogmen allgegenwärtig und können somit als absolutes Leitmotiv in „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“ gesehen werden. Die Rechnung geht auf: die Geschichte der beiden kleinen Mädchen ist durch und durch garstig und verbittert, was natürlich absolut positiv zu werten ist. 





Fazit: Erotischer, fieser und anstößiger Film, der sowohl unter dem Exploitation- als auch dem Dramenaspekt sehr gut funktioniert und ein echtes Unikat ist. „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“ ist kurzweilig, bitterböse und um einiges tiefsinniger, als man es zunächst vermuten möchte.  Ein uneingeschränkt empfehlenswerter Genrebeitrag, wie er nur aus dieser Zeit kommen kann!

Zur DVD: Bildstörung hat mal wieder keine Kosten und Mühen gescheut und bietet, neben dem gewohnt gelungenen Schuber und dem Film in guter Qualität auch einige interessante Interviews!

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