Sonntag, 13. Oktober 2013

REVIEW: CLEAN SHAVEN (Lodge Kerrigan, 1994)





Peter ist ein psychisch Kranker, der größtenteils in seinem verwahrlosten Auto lebt und offenbar ziellos herumstreunt. Peter ist schizophren, hört Stimmen in seinem Kopf und leidet unter Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen. Doch Peter ist bei weitem nicht so ziellos, wie es auf den ersten Blick scheint. Er ist auf der Suche nach seiner Tochter, welche zur Adoption freigegeben wurde, nachdem ihre Mutter starb. Vor Trauer und Sehnsucht zerfressen, irrt er durchs Land, um sie wiederzufinden. Schade nur, dass zeitgleich ein grausamer Mörder junge Mädchen umbringt und der Detective, der auf den Fall angesetzt ist, auf die Spur des verwirrten, jungen Peters kommt.





Clean Shaven von Lodge Kerrigan ist eine verstörende Einsicht in die Welt eines schizophren Mannes. Der mit sehr geringem Budget verwirklichte Independentfilm hat es direkt nach seiner Uraufführung im Jahre 1994 geschafft auf sich aufmerksam zu machen und ist bis heute ein Geheimtipp unter Kennern von Filmen, welche sich abseits des Mainstreams bewegen. Die heikle Thematik, die durchdacht eingesetzten Stilmittel und die nahezu perfekte schauspielerische Leistung des Hauptdarstellers, machen Clean Shaven zu einem Film, der so gut funktioniert, dass er den meisten Menschen zu schwierig sein dürfte (auf mehrere Arten). Da verwundert es wenig, dass der Titel „Clean Shaven“ weitaus seltener in den Mund genommen wird, als z.B. Saló. Doch was genau macht diesen Film so anspruchsvoll und einzigartig? 







Der Aufbau von „Clean Shaven“ ist denkbar einfach und dennoch mehr als verzwickt. Ohne Einführung und Erklärung wird der Zuschauer mitten ins Geschehen hineinkatapultiert und sieht den jungen Peter, wie er in seinem Auto die Scheibe einschlägt und in Panik die Flucht vor irgendetwas ergreift. Kerrigan schafft Verwirrung und lässt den Zuschauer darin verweilen, ohne ihm einen Fluchtpunkt zu bieten. Peters Handlungen lösen Unverständnis, Furcht und teilweise Mitleid aus, plötzliche Schreie und abgehackte Szenen von Gewalt schaffen eine konstante Bedrohung, von der man nicht weiß, wie man sie wirklich einzuordnen hat. Obwohl Peter einen Sack bei sich hat, der aussieht als würde er ein totes Kind darin transportieren, ist der Charakter zu unberechenbar und gestört, als dass man ihn zu 100% als Opfer oder Unschuldigen ansehen könnte. Kerrigan zeigt ihn von einer wilden, unberechenbaren Seite, aber auch als gebrochenen, deprimierten und kranken Mann, dessen einziger Wunsch es ist, seine Tochter wiederzufinden. Seine Motive sind auf eine gewisse Art klar und schleierhaft zugleich, denn an seinem mentalen Zustand besteht kein Zweifel.





Zeitgleich ist „Clean Shaven“ jedoch auch eine Art Katz- und Maus Spiel. Ein junger Detective glaubt in Peter den Kindermörder gefunden zu haben, welcher seit einiger Zeit sein Unwesen treibt und besucht die Adoptivmutter seiner Tochter, Peters Mutter, bei der der Verdächtige einige Zeit lang Unterschlupf gesucht hat und begutachtet Leichen und Tatorte. Hier und da kommt ein wenig klassisches Film Noir/Krimi Feeling auf, welches in Verbindung mit Peters Krankheit und seinem teilweise undurchsichtigen Verhalten eine sehr mulmige, kalte Stimmung aufkommen lässt. Die Tristesse der Umgebung und die Rätselhaftigkeit der Handlung unterstreichen dies, selbiges gilt für die Dialogarmut und die gestörten, menschlichen Beziehungen in Clean Shaven. Über weite Passagen wird nicht oder nur sehr wenig gesprochen. Die wenigen Dialoge wirken oft emotionslos und abweisend, so zum Beispiel das Gespräch, welches Peter mit seiner Mutter führt. Als er sich von ihr verabschiedet, gibt sie ihm noch nicht einmal Antwort. Diese autistisch anmutende Stimmung entwickelt im Zusammenspiel mit der Dynamik der Handlung ein sehr verqueres Eigenleben, welches den unangenehmen, bedrohlichen Charakter des Filmes zusätzlich intensiviert. Kerrigan hat es mit einfachen, aber konsequent angewandten Mitteln geschafft, die Hoffnungslosigkeit des Plots auf den Zuschauer zu übertragen und diese von Anfang bis Ende zu halten, ohne auch nur einen einzigen Lichtblick durchscheinen zu lassen. 





Die aussagekräftigste und eigentlich auch wichtigste Charaktereigenschaft von Clean Shaven ist jedoch ganz klar die Art, in der die Schizophrenie dargestellt wird. Regisseur, Autor und Produzent Kerrigan zeigt nicht nur einen Menschen, der unter Schizophrenie leidet, er lässt den mentalen Zustand seines Hauptcharakters Wirklichkeit werden. Seine schizophrenen Episoden werden durch derbe Zwischenschnitte, vorwurfsvolle Gesprächsschnipsel, welche durch seinen Kopf hallen und Halluzinationen dargestellt. Peters Leiden ist greifbar geschildert und offenbart dem Zuschauer die gesamte Grausamkeit dieser Krankheit. Eine weitere starke Szene von Clean Shaven zeigt Peter, wie er sich beim Rasieren das Gesicht zerschneidet und sich ein Stück Haut aus dem Kopf schneidet, da er denkt, dass die Stimmen auf diese Art zum Schweigen kommen würden. Später entfernt er auf sehr schmerzhafte Art einen seiner Fingernägel. Diese Szenen sorgen, genauso wie die sehr explizite Darstellung einer Mädchenleiche, für einen verhältnismäßig hohen Grad an Härte und verleihen der gezeigten Schizophrenie eine noch fatalere, unangenehme Note. Kerrigan gibt folgendes als Motivation an: "I really tried to examine the subjective reality of someone who suffered from schizophrenia, to try to put the audience in that position to experience how I imagined the symptoms to be: auditory hallucinations, heightened paranoia, dissociative feelings, anxiety." (Wikipedia). Dies ist ihm absolut gelungen. Clean Shaven ist voller Gewalt, Angst und Krankheit, eine Mischung, welche man selten auf solch hohem Niveau begutachten konnte. 





Das, was Clean Shaven aber eigentlich so eigen macht ist die Tatsache, dass der Film sich weigert irgendwelche Erklärungen oder Antworten zu liefern. Das deprimierende Ende wirft noch mehr Fragen auf, als der Film schon tat und im Endeffekt ist es dem Zuschauer selbst überlassen, wie er die Puzzlestücke zusammenfügt und was er daraus macht. Alles hängt stark davon ab, wie er den Hauptcharakter wahrnimmt und in welchen Bezug er das Geschehen setzt. Doch gerade weil der Film alles andeutet und sich dennoch auf nichts festnageln lässt, ist er fordernd und persönlicher, als es beim Durchschnitts-„Skandalfilm“ der Fall ist.  



Fazit: Schwieriger, intensiver und ungewohnt direkter Film über Schizophrenie, Gewalt und Hoffnungslosigkeit. Clean Shaven ist so echt und eindringlich, dass er den Zuschauer mit in eine Welt des geistigen Siechtums herunterzieht und ihn über die gesamte Laufzeit hinweg nicht mehr loslässt. Kerrigan fordert den Zuschauer, spielt mit seinen Erwartungen, seinen Emotionen und seiner Wahrnehmung. Dies macht Clean Shaven zu einem einzigartigen, anspruchsvollen Film, welcher in dieser Form sicherlich kein zweites Mal existiert. Ein gefährlicher, undurchsichtiger und raffinierter Leckerbissen für all jene, welche es sich zutrauen.

Zur BluRay: Das Bild der BluRay ist gut, der Schuber wie gewohnt erstklassig gestaltet. 

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